Karl Stirnkraus – Am Tüttensee

Tagebuch des Karl Stirnkraus aus
Kiebengau, Dienstag, 18:47 Uhr, bei leichtem Wind aus westlicher Richtung

Heute am Tüttensee

Ich hatte mich kaum eine halbe Stunde zuvor auf den Weg gemacht, um das zu tun, wozu man ins sogenannte Alpenvorland fährt: spazieren, schweigen, entschleunigen. Das Gelände war ideal – ein etwas zu sauberer Feldweg, wie mit dem Lineal durch die Landschaft gezogen und mit jenem spezifischen Ländlichkeitsduft, den Städter gerne mit „Natur“ verwechseln.

Ich hatte mein Tempo gefunden – nicht zu schnell, nicht zu zwecklos – und mich innerlich bereits gelöst von den Kalendern, To-do-Listen und Gesprächsfloskeln, die das Jahr so zerfasern. Da ertönte von hinten ein Brummen. Kein Insekt. Ein Trekker.

Langsam schob er sich näher, mit dieser dumpfen Selbstgewissheit, die nur Maschinen und gewisse Funktionäre besitzen. Auf dem Fahrersitz: ein Bauer, oder wenigstens eine personifizierte Dringlichkeit. Er wollte – das war unmissverständlich – auf seine Wiese. Und wir, eine kleine, verstreute Gruppe sommersanft Schlendernder, waren offenbar im Weg.

Er hupte nicht. Er rief nicht. Aber er wartete. Mit Motor an. Hinter uns. Sichtbar ungeduldig. Die Sonne ging unter, wir gingen nicht zur Seite – es war ein Stillstand der Prinzipien.

Zwei Damen mittleren Alters diskutierten weiterhin über Dinkelcracker. Ein älterer Herr nahm demonstrativ ein Foto von einer Distel. Ich selbst blieb im Gehen – aber bewusst langsam. Niemand wich aus. Niemand fühlte sich gestört. Wir ließen uns nicht stören. Und das war – rückblickend – vielleicht unsere stillste Form des Widerstands.

Der Bauer hob schließlich resigniert die Arme, wendete mit einem genervten Ruck, als wollte er den Horizont beleidigen, und fuhr brummend zurück. Die Idylle war wiederhergestellt – aber nicht unversehrt.

Nachtrag (mit einem Hauch dialektischer Güte):
Es mag sein, dass auch der Landwirt ein Recht auf Zeit hat. Es mag sein, dass Heuarbeit nicht warten kann, bis Städter ihre Gedanken zu Ende flaniert haben. Aber es war unser Moment. Und wir haben ihn verteidigt. Still. Passiv. Würdevoll.

Ein Traktor mag Kraft haben. Aber wir hatten Haltung.

K.S.

Kulturraum Tüttensee