Brüder im Süden – Leben

Die Haut, die atmet – das Leben auf dem Rücken der Brüder

Ein anderes Mal hab sie gefragt, wie das denn ist, mit dem Leben. Mit dem, was da so wächst auf ihnen, kreucht, fliegt und atmet.

Und wieder hat zuerst der Hochfelln geantwortet in mir drinnen. Er hat gsagt: hier bin ich und ich hab ihm gesagt, dass es mir eine grosse Freude macht, wenn ich ihm hier meine Stimme leihen darf. Und es war schon sehr interessant, was er mir geantwortet hat auf die Frage nach dem Leben:

Ich bin alt, sehr, sehr alt, hat er gsagt und innen drin bin ich ganz ruhig. Ich bin nicht der Ort an dem das Leben pulsiert, sondern ich bin der Ort, der es trägt, das leben. Das Leben spielt sich nicht in mir ab, sondern auf mir. Wie eine Haut liegt es über mir – dünn, warm, beweglich und auch verletzlich. Ich spüre es, das leben. Jeden Tag.

Ich trag sie, diese Haut. Ich trag sie seit langem. Erst waren es Bakterien, Algen, Flechten. Dann kam Moos. Dann kamen die Tiere. Und dann, dann seid ihr gekommen mit euren Wegen, euren Schuhen, euren Häusern, euren Maschinen. Aber ihr seid auch nur Leben. Wie die Gräser, wie das Wild. Euer Leben ist halt lauter. Es schreit und es tritt, es will mehr. Immer mehr und immer mehr.

Ich bin überhaupt nicht gegen euch. Nein, warum auch? Ich halte euch doch ganz locker aus. Ich kann nämlich viel mehr tragen, als ihr mit euren kleinen Gehirnen zu sehen vermögt. Ich habe schon sehr lange Zeit sehr viel getragen. Nun, das Leben, das ich trage – es ist ziemlich empfindlich. Es wandert, wenn es gestört wird. Es weicht zurück. Oder es verschwindet ganz plötzlich oder auch ganz langsam und still.

Ich bin Fels. Ich werde noch da sein, wenn längst das Gras gewichen ist und die Stimmen. Aber was heute auf mir lebt – das könnt ihr verlieren. Nicht, weil ich euch strafe, sondern weil das Leben halt weiterzieht, wenn es nicht mehr gehalten wird, so einfach ist das.

Ja, das hab ich dann ersteinmal verdauen müssen. So eine Antwort hätt‘ ich nicht erwartet. Aber gut man redet ja auch nicht jeden Tag mit einem Berg. Natürlich wollte ich auch wissen, was der andere Bruder sagt, also hab ich den Hochgern gefragt.

Und auch er hat geantwortet aber mit leiserer Stimme als sein grosser Bruder, oder ist es sein kleiner? Weiss nicht, jedenfalls war es irgendwie fast wie im Nebel: Ich bin fest verwachsen mit dem, was da auf mir lebt. Nicht weil ich es brauche ich würde auch ohne Leben weiterbestehen. Aber weil es halt dazugehört.

Mein Gras kennt euch nämlich. Meine Wasser haben euch gespiegelt, schon als ihr noch Kinder wart. Die Kühe haben mich besungen mit ihren Glocken. Und ich hab den Klang behalten, wie man einen Duft behält – leise, aber treu. Ich weiß genau, wenn jemand kommt, der nicht schaut. Wenn Schritte achtlos werden. Wenn zu viele kommen, oder keiner mehr. Ich merke das. Ich trage die Spuren jedes regenwurms in meiner Haut aus Leben. Und ich antworte darauf – manchmal nur mit Stille.

Leben ist nicht Besitz sondern Leben ist Beziehung. Ihr könnt euch nicht nehmen, was ihr nicht gebt. Und wenn ihr vergesst, dann vergesse auch ich. Dann wird es still auf mir. Die Wiese wächst zu. Der Pfad verschwindet. Und die Stimmen verklingen.

Ich bin nicht beleidigt, schliesslich bin ich kein Mensch. Aber ich kann nicht tragen, was man mir nicht anvertraut. Und ich werde auch nicht halten, was keiner mehr sieht.

Invitatio ad actum

Vielleicht magst du dich fragen: Wo auf deiner eigenen Haut lebt das Leben? Was trägt dich?
Und was trägst du – vielleicht, ohne es zu wissen?
Spürst du das auch, dass da etwas antwortet –wenn du ganz still wirst?

Wenn du willst, schreib’s dir auf. Oder schreib’s uns ins Buch der Stimmen.

Aber schreib. Und bleib nicht stumm.

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