Der Duft kam zuerst. Noch bevor sie den Stand überhaupt sahen, bevor die pastellfarbenen Fassaden des Stadtplatzes ins Blickfeld rückten, war er schon da: ein warmer, leicht säuerlicher Atem von frisch gebackenem Brot – durchzogen von etwas Nussigem, vielleicht Dinkel, vielleicht Roggen, vielleicht auch einfach der Trost von frühmorgendlicher Mühe. Martin sog die Luft ein wie eine Bestätigung.
„Er ist schon da“, sagte er und deutete mit dem Kopf zur Mitte des Platzes. „Ich wette, er hat das Dreikornbrot wieder diagonal gestapelt.“
Karin schob sich die Sonnenbrille ins Haar, ein Schatten von Ironie umspielte ihre Lippen. „Die Frage ist nicht, ob er es gestapelt hat“, sagte sie trocken, „sondern ob es dafür eine kausale Notwendigkeit gibt.“
Der Stand war unverkennbar. Keine grellen Schilder, keine Marktgeschrei-Ästhetik, keine plakativen Tafeln die einem als schmeichelndes Gesäusel verkleidete Kaufbotschaften präsentierten.
Stattdessen: schlichte weiße Leinentücher, gefaltete Holzschütten, auf denen die Brote lagen wie architektonische Entwürfe – exakt zueinander ausgerichtet. Nicht in Reih und Glied, sondern in einer Art stiller Hierarchie. Hier ein Laib Bauernbrot – kantig, dunkel, rustikal. Dort ein Dinkelbaguette – länglich und schlank wie ein Gedanke. Daneben kleine Laiberl, die aussahen wie aufgeplatzte Ideen. Hinter dem Stand stand Lois Tellhammer.
Die Stirn breit, das Haar grau und ordentlich zurückgekämmt, die Haltung aufrecht – wie bei jemandem, der nicht nur wusste, woher das Mehl kam, sondern auch, warum man daraus Brot machte. Er trug eine Bäckerschürze in tiefem Cremeweiß, auf der Brusttasche ein olivgrüner Kranz, gestickt. Darin: ein Bleistift, ein kleines Brotmesser – und ein Notizbuch mit abgegriffener Kante. Lois schaute auf, als sie näherkamen, und nickte. Nicht übertrieben herzlich – aber so, wie man jemanden grüßt den man schätzt und dessen Zeit man achtet.
Martin erwiderte den Gruß mit einem Lächeln, das Respekt zeigte – leise war es und fast wie eine kleine Verneigung. Karin trat einen halben Schritt vor. Sie betrachtete die Brote, aber nicht wie eine Kundin. Eher wie eine Forscherin auf Exkursion in einem anderen Ordnungssystem. „Was ist das da?“ fragte sie und deutete auf ein rundes, flach gedrücktes Gebäck mit einer dichten Kruste. „Ein Sauerteiglaib?“
Lois trat näher, als ginge es um mehr als eine Auskunft. „Das ist ein Roggenmisch mit langgeführtem Vorteig“, sagte er. „Aber im Grunde ist es eine Antwort.“
„Auf welche Frage?“ fragte Karin.
„Auf die, was Brot eigentlich ist.“
Lois hatte das Brotstück bereits zur Hälfte aufgeschnitten, als er innehielt.
Er legte das Messer beiseite, so, als würde man ein Gespräch beginnen, nicht ein Geschäft. „Also gut“, sagte er, und seine Stimme bekam diesen leichten Klang von jemandem, der weiß, dass man ihn für ein bisschen verrückt hält – und es genießt. „Fangen wir an mit dem Stoff. Der causa materialis.“
Karin hob die Braue, aber nicht abwehrend – eher wie jemand, der genau weiß, dass jetzt etwas kommt, das in keinem Lehrplan steht.
„Das hier“, sagte Lois und legte die Hand flach auf einen hellen, runden Teiglaib, „ist ein Dinkel-Sauerteig. Vier Tage geführt. Aus Mehl, Wasser, Salz – sonst nichts.“ Er hob die Hand wieder, fast feierlich. „Und doch ist es mehr. Denn das Mehl…“ Er griff hinter sich in eine Leinentasche, holte eine Handvoll Körner hervor. „…das Mehl ist ja nichts anderes als der Körper des Korns. Und das Korn – das Korn ist ein Versprechen. Es will etwas werden.“
Karin neigte leicht den Kopf. „Ein entwicklungsfähiger Stoff also.“
„Ganz genau.“ Lois nickte, als hätte sie ein Geheimzeichen verstanden. „Die causa materialis ist nie passiv. Der Stoff ist nicht nur Masse, er ist Möglichkeit. Potenzial. Werdendes.“
Martin blickte von der Seite auf das Gespräch, das sich da gerade entwickelte. Er mochte diesen Teil – wenn Karin aufblühte, weil jemand ihr Denken ernst nahm. Er selbst fand: Brot war Brot. Aber wenn es dabei half, dass sie dieses Leuchten bekam – umso besser.
„Aber ist es nicht nur dann Stoff, wenn es formlos ist?“ fragte Karin. „Das Korn ist doch schon strukturiert.“
Lois’ Augen blitzten. „Ja. Und genau das ist das Faszinierende: Selbst das Roheste ist schon geordnet. Das Korn trägt die Form in sich – embryonal. Aber erst der Teig…“ Er nahm ein weiteres Brot, zeigte auf die Schnittkante. „…erst der Teig ist bereit, sich zu biegen, zu dehnen, zu reagieren. Der Stoff wird weich, bereit – aber er bleibt sich treu. Man kann keinen Roggen zwingen, ein Ciabatta zu werden.“
Karin lächelte. „Das klingt jetzt fast moralisch.“
„Ist es ja vielleicht auch“, sagte Lois. „Ein Stoff muss zu sich selbst finden. Alles andere wäre Gewalt.“
Martin verschränkte die Arme und sah auf den Laib vor sich. Er sagte nichts – aber in ihm formte sich ein Gedanke, der nicht unbedingt ausgesprochen werden musste: „Beim Brot weiß man, was drin ist. Mehl, Wasser, Salz – fertig. Keine Spielchen, keine Maske. Wenn was fehlt, merkt man’s sofort.“ Er mochte das. Dass Brot nicht so tat, als wäre es etwas anderes. Dass es nicht redete – aber trotzdem stimmte. Und dann dachte er noch: „Wenn Menschen so ehrlich wären wie ein Sauerteig… dann wär das Lehrerzimmer leiser.“ Gesagt hat er das aber nicht, weil er die beiden keinesfalls in ihrem Gespräch um das Wesen des Brotes stören wollte, er genoss es innerlich ihnen zuzuhören.
Lois hatte den Teiglaib zur Seite gelegt und griff nun nach einem weiteren Brot – länglich, mit klaren Einschnitten. Er hob es vorsichtig an, als wollte er ein besonders empfindliches Fossil zeigen. „Die zweite Ursache“, sagte er, „ist die Formursache. Die causa formalis. Die Struktur. Die Gestalt. Das, was aus dem formlosen Stoff ein Ding macht.“
Karin trat näher. „Also das, was wir sehen? Die Oberfläche?“
„Mehr“, sagte Lois und er drehte das Brot leicht, ließ das Licht über die Kruste wandern. „Es geht nicht nur um die äußere Form. Sondern auch um das Prinzip, das die Form ermöglicht. Das Innere, das ordnet.“
Karin schob die Stirn leicht vor, interessiert. „Wie bei Kristallen?“ Sie sprach den Satz mehr in den Raum als zu ihm. „Da entsteht die Form ja auch aus den Kräften zwischen den Atomen. Gitterbindungen. Regelmäßigkeit – von innen heraus.“
Lois nickte langsam. „Ja, oder auch wie bei einem guten Gedankengang. Man merkt sofort, ob etwas nur zufällig so aussieht – oder ob es stimmig ist. Ob es von innen kommt.“ Er schnitt das Brot an. Die Kruste knackte leise, das Messer glitt durch das weiche Innere. „Ein Brot wie dieses – das formt sich selbst. Du kannst es nicht in eine Backform zwingen. Es würde rebellieren. Reißen. Hart werden.“
Karin warf einen Blick auf das Schnittbild. „Und wenn es trotzdem gelingt?“ fragte sie.
Lois lächelte. „Dann ist es kein Zwang gewesen, sondern eine Einladung.“
Martin hörte zu, den Blick halb auf das Brot, halb auf Karin. Die Art, wie sie fragte, war anders als im Lehrerzimmer. Irgendwie zarter. Mehr aus echtem Interesse. Nicht, weil sie recht haben wollte – sondern weil sie verstehen wollte.
„Und was ist dann mit Semmeln?“ fragte Karin. „Die haben doch alle die gleiche Form.“
Lois hob eine davon an – golden, rund, mit fünf exakt ausgeformten Strahlen. „Die Semmel ist ein Sonderfall. Sie folgt einer Typologie – einer archetypischen Form. Aber selbst hier gibt es Abweichungen. Jeder Teig ist anders. Wenn man genau hinschaut, ist keine wie die andere.“ Er hielt sie Karin hin. „Die Form zeigt sich – aber sie darf atmen. Sonst ist es Industriebrot.“
Karin nahm die Semmel, drehte sie prüfend in der Hand. „Ein bisschen wie beim Menschen“, murmelte sie. „Man sieht einen Kopf, zwei Augen, einen Mund – und trotzdem ist jeder anders.“
Lois nickte. „Das, Frau Schollmoser-Voggenauer, wenn ich es so sagen darf, war jetzt fast schon platonisch.“
Martin stand ein Stück daneben, das Brot noch im Blick, aber den Fokus eher bei den beiden. Er hörte zu, wie Karin über Kristalle sprach und Lois über Typologien. „Mir reicht’s eigentlich, wenn das Ding knusprig ist,“ dachte er. Aber dann – fast im selben Atemzug – formte sich etwas Tieferes. „Trotzdem stimmt’s schon. Wenn die Form passt, fühlt sich alles runder an. Nicht perfekt – aber richtig.“ Er wusste nicht, ob das jetzt Philosophie war oder was auch immer. Aber in dem Moment war es ihm egal. Es fühlte sich… stimmig an.
Lois schnitt ein weiteres Brot an. Diesmal ein rundes Dinkelmischbrot mit feiner, goldbrauner Kruste. Die Schnittfläche dampfte leicht – nicht vom Ofen, sondern vom frühen Aufstehen. „Die dritte Ursache“, sagte er, „ist die wirkende. Die causa efficiens. Ohne sie – kein Brot.“ Er legte das Messer ab, als wolle er damit ein Zeichen setzen. „Du brauchst jemanden, der tut. Der knetet. Der wartet. Der weiß, wann nicht mehr eingegriffen werden darf.“
Karin nickte langsam. „Die Ursache, die von außen kommt quasi?“
„Von außen – und doch ganz nah“, sagte Lois. „Ohne den Bäcker bleibt’s Teig. Ohne das Feuer bleibt’s klitschig. Ohne den Entschluss – passiert nichts.“ Er machte eine Geste mit der Hand – als würde er einen unsichtbaren Teig dehnen. „Es ist wie bei allem, was wirklich werden will. Irgendwann musst du aufhören zu denken – und anfangen zu tun. Und wenn du’s tust, dann musst du’s auch können. Und wenn du’s kannst, musst du’s aushalten.“
Karin sah ihn mit grossen Augen an. „Aushalten?“
„Ja. Dass es nicht sofort gelingt. Dass der Teig zickt. Dass das Wetter spinnt. Dass du alles richtig gemacht hast – und trotzdem wird’s nix.“ Er zuckte mit den Schultern – gelassen, wie nur jemand zucken kann, der es wirklich weiß. „Und dann stehst du da, früh um fünf, mit dem Dinkelklumpen deines Lebens – und denkst dir: Gut. Morgen probier ich’s wieder.“
Martin grinste. Wiederum dachte er sich seinen Teil. „Das ist wie Unterricht am Montagmorgen. Da planst du eine spannende Doppelstunde über den Wiener Kongress – und am Ende diskutierst du 45 Minuten mit den Schülern, ob Nutella ein Kolonialprodukt ist. Shit happens.“ Er sagte nichts – aber in seinem Blick lag ein stilles Einverständnis. Mit Lois. Mit dem Teig. Und vielleicht ein bisschen auch mit sich selbst.
Lois hatte jetzt das letzte Brot beiseitegelegt. Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das längst mehr als ein Küchentextil war – es war sein Begleiter, sein Werkzeug, sein Ärmelersatz. Dann sah er Karin an. „Die vierte Ursache“, sagte er leise. „Die causa finalis. Der Zweck. Der Sinn.“ Er machte eine kleine Pause, als müsse er innerlich Luft holen. „Warum backt man Brot?“ Er wiederholte die Frage – diesmal mehr für sich. „Nicht, weil es satt macht. Das tut vieles. Auch nicht, weil es duftet. Das tun nämlich auch Blumen. Sondern… weil man es teilen kann.“
Karin schwieg. Ihre Stirn war glatt, der Blick auf ihn gerichtet. Kein Witz diesmal, kein Konter. Nur Lauschen. Lois nahm ein kleines Weizenbrot, schnitt es in der Mitte durch, dann noch einmal – vier Viertel, wie Kuchenstücke. Er legte zwei davon auf ein kleines Holzbrett und schob es über die Auslage zu ihnen. „Brot ist nichts für Einzelne. Ein Brot ist immer ein Angebot. An jemanden.“
Karin sah auf die Viertel, als sähe sie etwas, das sie lange gekannt, aber nie so betrachtet hatte. Martin griff vorsichtig zu, als wolle er das Ritual nicht stören.
„Für wen backen Sie denn dann?“ fragte er. Lois sah ihn an – und lachte leise, warm. „Für alle, die den Unterschied merken. Zwischen Nahrungsaufnahme und Mahlzeit.“
Martin sah auf das geviertelte Brotstück in seiner Hand. Er biss ab – und kaute langsam, als wolle er das Gespräch gleich mitverdauen. Es schmeckte schlicht. Kräftig. Ehrlich. Karin sagte nichts – aber sie griff ebenfalls zu. Ein kleiner Biss, prüfender Blick, dann ein stilles Nicken.
„Wir nehmen das große Bauernbrot,“ sagte Martin. „Das da, mit der rissigen Kruste.“
Lois legte es auf die Waage, wickelte es in Papier, das leise raschelte wie Herbstlaub.
„Für morgen“, sagte Karin beiläufig. „Wir machen einen Spaziergang ins Bergener Moos.“
Lois nickte. „Dann nehmt euch Butter mit. Und was zum Sitzen.“
Sie lachten leise, bezahlten, dankten – und gingen weiter. Das Brot roch durch das Papier hindurch. Es war ein Duft wie ein Versprechen. Martin trug es wie ein Schatz. Karin sah ganz kurz zu ihm – dann blickte sie gleich wieder nach vorn in Richtung nächsten Marktstand.