Sie gingen nur ein paar Schritte weiter – aber etwas veränderte sich. Die Luft war noch dieselbe, und doch schien sie sich zu kräuseln, wie ein Vorhang, der sich hebt. „Also, wenn sie mir heute wieder Rosmarin in den Strauß steckt, nur weil ich über Kopfschmerzen rede, dann…“
„Dann hat sie’s wahrscheinlich schon vorher gerochen“, sagte Martin leise.
Karin verzog den Mund zu einem Lächeln, das irgendwo zwischen Skepsis und Anerkennung balancierte. „Sie tut immer so, als wüsste sie mehr über mich als ich selbst.“
„Sie tut nicht nur so“, sagte Martin. Und das meinte er nicht ironisch.
Ein großer Schirm in verblichenem Umbra warf einen warmen Schimmer auf die Szene am Stand. Dahinter waren Holzkisten mit wild zusammengestellten Blumen, Kräutern und Zweigen. Keine Namensschilder. Keine Preise. Keine Ordnung. Nur ein kleiner Pappkarton, der irgendwo angelehnt lag und auf dem in schlichter Handschrift geschrieben stand:
„Sträuße aus dem, was gesagt wird.“
Karin kannte diesen Satz nur zu gut. Und sie wusste auch, dass er nicht metaphorisch gemeint war.
„Sie hört mit den Händen“, hatte Martin einmal gesagt. „Und bindet mit dem Herzen.“
„Oder mit dem, was davon übrig ist“, hatte Karin damals erwidert.
Heute schwieg sie aber. Sie blieben kurz stehen, auf halbem Weg zwischen Brotkunst und Blumenzauber. Karin zögerte, obwohl es scheinbar keinen dafür Grund gab.
„Du gehst vor“, sagte sie. „Du magst sie ja so.“
Martin schaute sie an. Er kannte diesen Ton – trocken, wie zerstoßene Lavendelblätter. Eine Spur zu beiläufig. Eine Spur zu spitz auch. „Wir mögen sie beide“, sagte er nur. Und ging los. Karin folgte, nicht zu dicht hinter ihm aber auch nicht zu weit. Die Eifersucht, die sie nicht verstand, saß wie ein Schatten unter ihrem Schlüsselbein. Und irgendwo darunter – leise, warm, verstörend – flackerte ein anderes, schwer greifbares Gefühl. Es war wie ein Ziehen, wie ein Wunsch. Ein Nichtwissen, das aber trotzdem etwas wollte, intensiv und mächtig. Sie näherte sich der Frau, die man auf dem Markt nur „Thima“ nannte. Und Thima – wie immer – wusste schon, dass sie kam.
Der Stand lag im Nachmittagslicht beschattet vom grossen Sonnenschirm, der bleich geworden war von Jahren im Licht. Er warf ein warmes, ruhiges Halbdunkel über Thimas Auslage: kleine, lockere Bündel aus Lavendel, Salbei, wilder Kamille. Auch Blüten in zerzauster natürlicher Schönheit, unsortiert, nicht drapiert, nicht gefügt – sondern hingelegt, als wären sie gerade erst aus einem anderen, stilleren Garten geholt worden. Dazwischen kleine Tonvasen, manche leer, manche mit einem einzigen Stängel besetzt. Und Thima, ruhig, wie aus dem Moment heraus gewachsen, stand barfuß hinter ihrer Holzkiste, ein Strohband um das Handgelenk geschlungen, das lose wie eine Erinnerung wirkte.
Karin blieb einen halben Schritt hinter Martin stehen. Ihr Blick glitt über die Blüten, dann zu Thima. Die Frau hob den Kopf, als hätte sie Karin schon längst kommen sehen. Ihre Augen – braun, aber nicht warm, eher tief – ruhten für einen Moment auf Karin, dann glitten sie weiter, als ob sie nicht schauen, sondern empfangen wollten.
„Ihr zwei…“, sagte Thima leise. „Ihr bringt Wind mit heute.“
Martin lachte kurz. „Kein Föhn, keine Sorge.“
Doch Karin sagte nichts. Sie sah Thima an, und etwas in ihr spannte sich an. Es war nicht das erste Mal, dass sie an diesem Stand standen. Nicht das erste Gespräch. Und doch – heute war es anders. Etwas hatte sich verschoben. Oder war es sie selbst, die nicht mehr dort stand, wo sie sonst stand?
„Ein Strauss?“, fragte Thima.
„Wie immer“, sagte Martin. „Aber vielleicht… diesmal anders.“
„Anders ist gut.“ Thima griff nach einem Zweig Holunder, betrachtete ihn kurz, legte ihn wieder hin. Ihre Bewegungen waren langsam, als würde sie nicht nur Blumen, sondern Zeit sortieren. Karin beobachtete sie. Ihre Hände – schlank, ruhig, mit kleinen Schmutzrändern unter den Nägeln. Ihre Haltung – nicht stolz, aber auch nicht klein. Und da war etwas. Ein Leuchten. Eine Wärme. Eine Art Selbstverständlichkeit im Dasein, die Karin aus dem Gleichgewicht brachte.
Sie sagte sich: Das ist Neid. Vielleicht auch Eifersucht. Oder einfach das Bedürfnis, einmal so zu sein wie diese Frau. Aber es war mehr. Tiefer. Körperlicher. Ihr Atem ging schneller. Ihre Finger krampften sich um den Träger ihrer Tasche. Sie fühlte sich beobachtet – nicht von Thima, sondern von sich selbst. Von einem Teil in ihr, den sie nicht kannte. Oder nicht kennen wollte.
„Ich denke…“, sagte Thima langsam, ohne aufzusehen, „…heute braucht es etwas mit Wurzeln.“ Sie griff zu einem Bündel Alant, das zwischen zwei Salbeisträußen lag. Ihre Finger berührten dabei flüchtig Karins. Ein elektrischer Moment. Kein Kribbeln – sondern ein stilles Aufleuchten im Innersten. Karin zuckte nicht zurück. Aber ihr Blick wurde weich. Zu weich.
„Was ist das?“, fragte sie heiser.
„Alant. Hilft beim Loslassen. Und beim Erinnern. Manchmal beides zugleich.“
Karin schwieg.
Thima sah sie an. Nicht direkt – sondern wie durch einen Schleier aus Nichtwissen. Als würde sie auf Karin warten. Oder auf das, was durch sie hindurch wollte. „Du trägst eine schöne Unruhe in dir“, sagte sie dann leise. „Aber vielleicht gehört sie nicht dir.“
Karin wusste nicht, wie sie antworten sollte. Da war ein Knoten in ihrer Brust. Ein Ziehen. Und dann – ein Drängen. Etwas wollte heraus. Ein Sehnen, das sie nicht benennen konnte. Und ganz plötzlich wusste sie, was sie gefühlt hatte: Lust. Aber nicht auf Berührung. Nicht auf Haut. Sondern auf… Nähe. Schönheit. Auf das, was in dieser Frau still leuchtete. Und sie schämte sich dafür. Weil sie es nicht verstand.
„Es ist nicht schlimm“, sagte Thima – als hätte sie Karins Gedanken gehört. „Du spürst nur das Schöne. Und du glaubst, es sei ich.“
Karin sah sie an. Ihre Augen waren plötzlich feucht. Sie wollte etwas sagen – aber da war nichts. Nur Atem. Und der Geschmack von Erkenntnis. Thima lächelte. Kein Siegeslächeln. Ein müdes, weiches. Und dann nahm sie eine Ringelblume zur Hand. „Ich binde den Rest. Du kannst dich setzen, wenn du magst.“
Karin nickte kaum merklich, trat einen halben Schritt zurück und ließ sich auf die niedrige Holzkante der Standbegrenzung sinken. Ihre Beine waren weich. Ihr Herz ein Fluss. Der Moment war nicht vorbei – aber er war verwandelt worden.
Martin trat näher, als hätte er gewartet, bis das Unsichtbare sich gelegt hatte. „Ich glaube, das war heute… mehr als ein Strauß“, sagte er leise.
Thima nickte. „Das ist es immer.“ Dann begann sie zu binden.
Martin trat näher an Thima heran. Die war gerade dabei, ein paar Stängel auszusortieren. „Die Hirtentäschel waren viel zu unentschlossen“, sagte sie leise, „die müssen heute nicht mit.“
Martin lächelte. „Manche Tage sind halt einfach keine Hirtentäschel-Tage.“
Thima hob den Kopf. Ihre Augen lachten. „Martin, du verstehst mehr von Blumen, als du zugibst.“
Er schaute auf das halbfertige Bündel. „Ich bin mehr der stille Bewunderer. Bindung überlass ich lieber den Profis.“
„Du meinst die Floristen?“
„Ich mein die, die mit Herz hören und mit Händen denken.“
Thima nickte, ganz leicht. Sie griff nach einem Zweig Frauenmantel, hielt ihn Martin hin. „Was sagt er dir?“
Martin überlegte, legte dann den Kopf schief. „Ein bisschen wie ein guter Geschichtslehrer. Eher zurückhaltend, aber wenn man zuhört, sehr… beschützend.“
Thima schmunzelte. „Du bist nah dran. Gut, ich nehm ihn mit rein.“
Er beobachtete, wie sie sorgfältig weiterband. „Und… ist das jetzt ein klassischer Karinstrauß?“
„Nein“, sagte sie. „Kein Strauß ist klassisch. Aber dieser hier… der hat was sehr Klärendes. Fast so, als würde er jemandem helfen, sich neu zu sortieren.“
Martin blickte kurz zur Seite, wo Karin immer noch auf der Holzkante sass. Sie hatte sich wohl wieder gefasst, aber ihre Stirn war noch ein wenig zu ruhig, um wirklich entspannt zu sein.
„Was kostet die innere Klärung denn heut so?“ fragte er, während Thima den letzten Baststreifen wickelte.
„Für euch: elf Euro und ein Lächeln.“
„Ich geb dir zwölf und einen Witz“, sagte Martin.
Thima hielt inne. „Deal. Aber er muss gut sein.“
Er beugte sich ein Stück vor. „Wie nennt man einen Philosophen, der Brotteig knetet?“
„Na?“
„Aristoteller.“
Thima lachte – laut, frei, herzlich. „Der war schlecht aber ich nehm ihn trotzdem.“
Er zahlte. Sie überreichte ihm den Strauß mit einer kleinen Verbeugung. Dann sah sie kurz zu Karin hinüber – nicht fragend, nicht prüfend, sondern so, wie man auf eine Melodie hört, die noch nicht ganz verklungen ist. Martin ging zu Karin, reichte ihr den Strauß ohne Worte. Sie nahm ihn entgegen – ein klein wenig zögernd, aber mit einem Blick, der mehr sagte als alles zuvor.
„Bereit?“ fragte er.
Sie nickte. Dann gingen sie weiter.