Opa-Gott

„Darstellung von Gottvater mit ausgebreiteten Armen, barocker Hochaltar in Einharting, mit Christusmonogramm IHS“

Abendstille am Schreibtisch

Der Abend ist still. Nur durch das geöffnete Fenster dringt noch feuchte Luft herein, schwer vom Gewitter, das vor einer Stunde die Hitze zerbrochen hat. Die Tropfen fallen vereinzelt vom Dach, jedes Mal mit einem kleinen Pling in die Rinne. Mira sitzt gerade am Schreibtisch. Die Lampe wirft einen gelben Kreis aufs Holz, drumherum nur Schatten. Ihre Haare sind noch leicht verklebt vom Baden im Tüttensee, die Haut fühlt sich warm an von der Sonne und sie ist ein wenig müde vom Schwimmen.

Heute war ein freier Tag. Kein Eiscafé, kein Trubel. Nur Radfahren, Baden, Gewitter, Heimspurten. Ein Tag wie viele andere auch. Aber jetzt wo sie die Hand über der fast leeren Tagebuchseite hält, da taucht plötzlich ein Bild auf, das sie nicht loslässt.

Die offene Tür in Einharting

Am Nachmittag auf ihrem Weg zum Tüttensee war sie nämlich an der kleinen Kirche in Einharting vorbeigekommen. Die Tür stand zufällig offen und ohne groß nachzudenken hatte sie das Radl abgestellt und war hineingegangen. Drinnen war es kühl und still gewesen, als hätte die Hitze von draußen hier drinnen nichts mehr zu sagen. Sie hatte alles angeschaut – die Fenster, die Figuren, den Altar.

Doch geblieben ist nicht das große Ganze, nicht das Kruzifix, auch nicht die vielen Engel. Sondern etwas viel Kleineres spukt jetzt durch ihre Gedanken: oben am Altar, über allem war ein alter Mann mit Bart gewesen, die Arme weit ausgebreitet, fast einladend. „Opa-Gott,“ denkt Mira jetzt und sie kichert leise in sich hinein über ihr eigenes Wort.

Und gleich darüber, über dem Opa-Gott, wie absichtlich platziert waren drei Buchstaben: IHS. Für sie wirkt es wie ein Geheimcode. Sie kritzelt die Buchstaben groß in die Mitte der Tagebuchseite und stützt den Kopf in die Hand. „Warum ist mir wohl gerade das hängen geblieben? Warum nicht das Kreuz? Oder die Engel?“

Warum gerade der Opa-Gott?

Sie malt Kringel an den Rand der Seite, hört dann wieder die Tropfen draußen. „Vielleicht weil er so menschlich aussieht? So nah? Oder weil ich’s lustig finde, dass Gott als Opa dasteht?“ Sie weiß es nicht, aber das Detail bleibt.

Schließlich klappt sie dann doch den Laptop auf. Das Licht ist grell neben der warmen Lampe, fast ein wenig zu hart, aber sie will es wissen. Sie überlegt, was sie denn eigentlich überhaupt suchen soll. „Opa-Gott“ ist zu albern. Also: „Gott Vater Altar Bart.“

Bart, Weisheit und Michelangelo

Texte und Bilder erscheinen. Mira liest: Darstellung als alter Mann = Symbol für Weisheit und Ewigkeit. Sie schnaubt leise. „Alles klar: Weisheit = Bart. Dann bin ich ja noch meilenweit weg von der Weisheit, werde wohl nie weise werden, ausser durch einen Damenbart“. Wieder grinst sie in sich hinein.

Sie scrollt nach unten, dann ein Bild das sie kennt und doch noch nie so genau angesehen hat: Michelangelo, Sixtinische Kapelle. Gott mit Bart, kraftvoll, den Finger ausgestreckt, fast an Adams Finger. Sie zoomt hinein und atmet. „Also von da her kommt’s. Michelangelo het’s erfunden. Gar nicht mal schlecht. Der schaut auch nicht streng aus, sondern eher irgendwie nah“, findet Mira.

Der Geheimcode IHS

Noch ein Suchwort: „IHS Kirche.“ Schon nach wenigen Klicks steht die Erklärung da: Abkürzung für Iesus Hominum Salvator – aha, Jesus, Retter der Menschen. Mira spricht die Worte leise nach, sie klingen fremd und irgendwie auch feierlich, findet sie. „Okay,“ sagt sie halblaut zu sich selbst, „Geheimcode geknackt.“

Ein Rätsel zum Schluss

Dann klappt den Laptop wieder zu und das Licht am Schreibtisch wird wieder weich. Einen Moment sitzt sie nur da, hört die Tropfen draußen, malt mit dem Finger eine Linie über das Holz. Dann greift sie den Stift und schreibt mitten auf die Seite, größer als sonst:

„Heute habe ich den Opa-Gott getroffen. Und er hat mir ein Rätsel dagelassen.“

Sie lehnt sich zurück, sieht zum Fenster hinaus in das Dunkel dahinter. Und ganz leise, fast wie ein Seufzer sagt sie zu sich selbst: „Voll schön, irgendwie!“