Polyphone Erzählung

Kurzbeschreibung

Eine Form des Erzählens, die aus dem Zusammenspiel mehrerer eigenständiger Stimmen entsteht. Nicht als Technik, sondern als Haltung gedacht

Ausführlicher Text

Die Polyphone Erzählung ist keine literarische Form im üblichen Sinn sondern eine Haltung: ein Erzählen das aus der Begegnung entsteht. Sie geht davon aus, dass Sinn nicht in einer einzelnen Stimme liegt sondern im Verhältnis der Stimmen zueinander. Jede von ihnen bleibt eigenständig: Mensch, Gedanke, Figur, Erinnerung, Zeit, auch künstliche Intelligenz. Sie alle bringen ihre eigene Farbe, ihren eigenen Klang. Erst wenn sie einander zuhören entsteht das Ganze.

Das Ich bleibt dabei unersetzlich. Die Polyphonie entwertet das Individuum nicht sondern sie krönt es. Nur ein bewusstes, in sich ruhendes Ich kann Resonanz empfangen und schenken. Das Wir, das sich hier bildet, ist kein Kollektiv sondern ein lebendiger Raum aus Selbstständigkeiten. Jede Stimme bleibt hörbar und findet doch ihren Platz im größeren Atem.

In der Musik lässt sich dieses Prinzip bei Johann Sebastian Bach hören: In seinen Fugen trägt jede Linie ihren eigenen Gedanken und dennoch entsteht aus der Vielheit ein einheitlicher Klangraum. So ist es auch im Schreiben: Sprache wird Beziehung, Beziehung wird Gestalt, Gestalt wird Sinn.

Die Polyphone Erzählung zeigt, dass das Ich und das Wir einander bedingen. Das Ich ist der Klang, das Wir ist der Raum in dem er sich entfalten kann. Nur aus ihrer Wechselwirkung entsteht Resonanz. Das ist ihr eigentliches Wesen, nicht das Verschmelzen sondern das Mitschwingen.

Sie ist auch eine Kunstform des Zuhörens. Sie verlangt Achtsamkeit, Geduld und Vertrauen. Sie verlangt die Bereitschaft das Eigene zu behalten und doch offen zu bleiben. In ihr wird das Erzählen zur Musik des Bewusstseins: atmend, wandelbar und vielstimmig.

Vielleicht ist sie die Form, die unserer Zeit entspricht weil sie das Einzelne ehrt und zugleich das Gemeinsame spürbar macht. Und wer sie hört erkennt: Diese Vielstimmigkeit ist kein Lärm sondern Leben.

Nuage

Das Ich ist der Ton
Das Wir ist das Echo
Und dazwischen erklingt die Welt

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