Das Metaphysische Café: Der Fall mit der To-Flow-Liste

Ein Gespräch über erschöpfte Systeme und andere Verwaltungswunder

Im Metaphysischen Café war es an diesem Vormittag ungewöhnlich ruhig. Die Zeitverwerfungen hielten sich zurück, niemand war rückwärts hereingelaufen und das Tagesgericht war sogar schon vor zwölf Uhr warm. Soleil stand wie immer hinter der Theke, eine Hand auf dem Espressokocher, die andere auf dem Puls der Welt.

Gegen halb eins trat Kronthaler ein. Man kannte ihn. Nicht weil er besonders auffiel, nein, sondern weil er eigentlich nie, aber auch wirklich nie nicht da war. Ein stiller Mann mit stoischer Haltung und exakt gezogener Mittelscheitelung war er. In der Abteilung für strukturelle Koordination unstrukturierter Arbeitsprozesse galt er als zuverlässige Anomalie, als jemand, der auch dann noch Listen führte, wenn alle Systeme längst kollabiert waren.

Er stellte also seine Tabletmappe auf den Tresen, legte die Brille daneben als wäre sie für diesen Moment zu schwach und sagte ohne Umschweife:

„Ich habe den Überblick verloren.“

Soleil sagte gar nichts. Sie goss heißes Wasser über Pfefferminze und wartete dann bis der Dampf die Brille sanft beschlug.

„Ich habe aktuell dreizehn aktive To-Do-Listen“, fuhr Kronthaler fort. „eine für jeden laufenden Prozess. Eine Metaprozessliste. Eine Nachverfolgungsliste. Eine Liste auf der steht, welche Liste wann zuletzt aktualisiert wurde. Und dann noch eine Archivliste, die protokolliert wann welche Liste nicht mehr aktuell war.“

Soleil stellte die Tasse vor ihn hin. Der Duft war freundlich aber direkt.

„Ich habe heute aus Versehen zwei Listen gleichzeitig abgearbeitet“, sagte Kronthaler. „Die Prozesse haben sich überkreuzt und jetzt sind sie doppelt dokumentiert aber in unterschiedlichen Zuständen. Ich habe ein Synchronisationsproblem.“

Soleil räumte eine leere Zuckerdose um als wäre das eine Antwort. Dann ging sie in den hinteren Bereich des Cafés. Man hörte ein paar Schritte, das Rascheln von Papier, ein kurzes Lachen und es war unklar ob von ihr oder aus dem Archiv.

Als sie zurückkam hielt sie ein einzelnes Blatt in der Hand. Es war unbeschrieben, nicht gelocht und ohne Briefkopf. Nur am unteren Rand hatte jemand mit Bleistift eine wellenförmige Linie gezogen fast so, als hätte das Papier selbst einmal gezögert ob es jetzt glatt bleiben will oder sich wellen soll.

Sie legte es vor Kronthaler. Er sah sie fragend an.

„Das ist deine To-Flow-Liste“, sagte sie.

„Aber da steht ja nichts drauf.“

„Drum.“

Er wartete ob sie noch etwas hinzufügen würde aber sie tat es nicht.

„Und was soll ich damit tun?“

„Schau einfach drauf, Kronthaler. Einmal am Tag.“

„Und wenn ich etwas erledigen muss?“

„Dann wird es sich schon zeigen. Und dann tust du es einfach.“

Er nahm das Blatt, faltete es einmal in der Mitte und steckte es dann in die Innentasche seines Jacketts, dort wo andere Leute ihr Herz aufbewahren.

An diesem Nachmittag ging Kronthaler zum ersten Mal seit Monaten nicht in sein Büro zurück. Stattdessen spazierte er eine halbe Stunde durch den Korridor der noch unformulierten Zuständigkeiten. Es wurde ihm dabei zwar nicht leichter ums Herz aber wesentlich weiter.

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