Einführung in den Barock – Mira und der Atem Europas

Bewegung in der Zeit

Der Regen klingt heute ganz anders – nicht so wie Tropfen, nein eher wie Gedanken die auf die Fensterbank fallen. Mira sitzt auf ihrem Bett, kuschlig in eine Decke gewickelt und versucht nicht an die Mathearbeit von morgen zu denken. Auf ihren Knien liegt ein altes Buch mit einem dunkelgrünem Einband. An den Rändern ist es ziemlich ausgefranst, in der Mitte steht ein goldener Titel: „Barock – Der Atem Europas“. Sie hat es auf dem Flohmarkt am Stadtplatz gefunden zwischen Kaffeekannen, Schallplatten und einem Korb voll Postkarten auf denen Menschen lächeln, die heute längst tot sind. Vier Euro. Sie hat das Buch gekauft, weil es sie angeschaut hat und dabei war ihr als wüsste das Buch, dass sie für solche Gedanken durchlässig ist. Jetzt liegt es hier, riecht nach Dachboden und Staub und als sie es aufschlägt, da knackt der Rücken leise wie ein altes Gelenk, das sich freut mal wieder bewegt zu werden.

Sie liest: „Der Barock ist keine Epoche sondern eine Bewegung.“  Sie sagt den Satz laut, einfach nur für sich. Die Worte hängen kurz in der Luft, so als würden sie tanzen und als wollten sie sich dann setzen. Bewegung – so wie Wind, wie Musik oder wie ein Herzschlag, denkt sie und spürt, wie sich etwas in ihr dehnt, gerade so als öffne sich eine kleine Tür.

Die ersten Bilder zeigen Rom. Engel mit flatternden Tüchern, und Kirchen, die im Abendlicht glühen. Bernini, Borromini, Caravaggio – sie liest Namen die klingen, als rollten sie über marmorne Treppenstufen. Mira kann sie kaum auseinanderhalten geschweige denn sich merken aber sie leuchten irgendwie. Sie stellt sich vor, sie geht gerade barfuß durch Rom und das Pflaster ist noch warm vom Tag. In der Hand hält sie ein Pistazieneis und überall dieser süße, schwere Geruch nach Stein und Sonne. Rom will nicht überzeugen, sondern überwältigen, steht da im Buch. Sie flüstert es nach, leise so als wäre das eine Art Gebet. Und sie nickt. Ja genau! So fühlt sich manchmal auch das Leben an.

Sie blättert weiter und plötzlich wird die Luft im Zimmer heller. Sie liest weiter: Wien. München. Salzburg. Prag. Der Barock kommt über die Alpen, getragen von Jesuiten, Predigern, Architekten. Der Süden atmet in den Norden. Ein gepresstes Blatt fällt aus dem Buch, hellbraun, zerbrechlich und fast durchsichtig. Mira legt es vorsichtig auf die Fensterbank. Vielleicht ist es ein Lorbeer, vielleicht aber auch nur ein Blatt vom Stadtpark, das jemand vor hundert Jahren hineingelegt hat als Lesezeichen für ein Kapitel, das ihm zu schön war, um es zu vergessen. Sie liest weiter von einer Frau namens Henriette Adelaide von Savoyen, einer Fürstin die den bayerischen Himmel erhellt. Mira tippt den Namen ins Handy und findet ein Gemälde: eine Frau mit dunklen Locken, den Blick nachdenklich, fast lebendig. „Voll schön bist du“, murmelt sie, dann kichert sie, weil sie sich dabei ertappt, wie sie mit einer Frau aus dem siebzehnten Jahrhundert redet.

Das Kapitel über Paris glänzt wie frisch poliert. Bilder, Versailles. Ludwig XIV. – der Sonnenkönig. Überall Spiegel, Gärten und Etikette. Der Barock verliert seine Ekstase und gewinnt Form. Mira schaut sich in ihrem Zimmer um: Notizzettel, Buntstifte, die Gitarre halb unter der Decke vergraben. Sie lächelt. „Ordnung ist relativ, Ludwig“, sagt sie leise. Sie mag die Vorstellung, dass irgendwo da draußen Menschen mit Lineal und Zirkel versucht haben, den Himmel nachzumessen. Vielleicht ist Barock einfach das ewige Missverständnis zwischen Gefühl und Geometrie, denkt sie.

Dann wechselt der Ton. Leipzig. Bach. Fugen, Passionen, Töne die wie Gewölbe klingen. Der protestantische Barock schaut nicht, er lauscht. Mira legt das Buch beiseite und greift zur Gitarre. Ihre Finger sind kalt aber die Melodie kommt trotzdem. Nur ein paar Akkorde, unsicher und schön. Draußen rauscht der Regen im Takt, als würde er zuhören. Vielleicht hat Bach auch mal so angefangen, denkt sie. Nur mit dem Regen als Lehrer.

Sie spielt weiter, ein paar Töne, die sich verheddern und wieder finden und sie spürt, wie die Musik den Raum verändert, so wie Licht manchmal Schatten streichelt, statt ihn zu vertreiben. Dann legt sie die Gitarre weg, streicht über das Buch und liest das letzte Kapitel. Der Barock ist vorbei, sagt die Geschichte. Aber das stimmt nicht. Sie liest den Satz zweimal. Dann noch einmal. Vielleicht ist nichts wirklich vorbei, was einmal geglänzt hat, denkt sie. Vielleicht wandert alles, nur leiser.

Sie sieht auf ihr Zimmer: das schiefe Licht der Lampe, die Teetasse, das Blatt auf der Fensterbank, das in der Zugluft leicht zittert. Vielleicht ist der Barock ja nicht gestorben, sondern einfach weitergezogen – in die Dinge, die wir schön nennen, obwohl wir wissen, dass sie vergehen.

Sie klappt das Buch zu, und der Regen draußen wird langsam dünner. Die Luft riecht nach Metall und Anfang. Mira lehnt sich zurück, schließt kurz die Augen. „Der Atem Europas“, flüstert sie. „Klingt wie ein Lied, das man nie ganz auswendig kann.“ Dann steht sie auf, löscht das Licht, und der Raum bleibt noch einen Moment warm, als würde die Geschichte selbst leise nachatmen.

Tagebuch, später:

Manchmal finde ich keine Antworten, nur Epochen, die weiteratmen.

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